Samstag, 29. Dezember 2012

Geh mir doch weg XXIII: Mundsuppe


Peter hatte Speichelfluss. Ganz schlimm. Mundsuppe, wie man im Sauerland sagte. Hatte sich arglos bei Facebook über Currywurst und Pommes unterhalten, hatte nach einem passenden Bildchen gesucht und zack! - schon lief die Spucke. Mundsuppe. Hatte seine Omma immer gesagt. Wenn die Enkel mal wieder um die Kochtöpfe lungerten und auf das Sonntagsessen warteten. Im Hochsauerland bei Peters Großeltern wurde, nunja, eher selten vegan gekocht. Schweinebraten, Gulasch, Sauerbraten, Rindsrouladen (mit Schweinemett gefüllt), grobe Bratwurst im Speckmantel, Schweineschnitzel (Wiener Art) und später: Steak. Dazu verkochtes Gemüse und verkochte Kartoffeln, ab und zu verkochter Rotkohl. Bratkartoffeln (mit Speck) und Spiegelei war schon das Vegetarischste, was seine Omma und später dann auch Peters Mutter, die ja bei seiner Omma in die Lehre gegangen war, zustande brachte. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Da im Sauerland aber niemand, der recht bei Trost war, in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern überhaupt nur auf die Idee gekommen wäre, sich von verkochtem Gemüse ernähren zu wollen, war das auch gar nicht nötig. Sie hätte wahrscheinlich auf die Aufforderung "Koch doch mal was Vegetarisches" geantwortet: "Gut, mache ich halt Hühnchen." Das hatte jedenfalls seine Omma gesagt, als Peters älterer Bruder in den frühen Neunzigern seine vegetarische Phase hatte. So waren sie halt, die Südwestfalen. Hatten das Herz am rechten Fleck. Und immer Angst, nicht satt zu werden. Und wäre es nicht Heinz Strunk gewesen, der seinerzeit diesen ebenso philosophischen wie wahren Satz geprägt hätte, er hätte aus einem Sauerländer Schlund, tschulligung  Mund kommen müssen: Fleisch ist mein Gemüse. 

(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Donnerstag, 27. Dezember 2012

Geh mir doch weg XXII: Yoko Ono reich machen


"John Lennon ist sauber", sagte Peter. Bettina suchte in den schmutzigen Tassen auf dem Küchentisch nach einem noch halbwegs brauchbaren Exemplar, um sich ungefragt einen löslichen Kaffee zu kochen. Er wollte alles andere als Yoko Ono reich machen. Zumal das gar nicht ging. War schon. 


(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Aber so lief das nun mal: Wer eine John-Lennon-Tasse kaufte, machte Yoko Ono reicher. Wer "Imagine" und "Instant Karma" bei iTunes runterlud, ebenso. Geschäftsmodell Witwe. Keine schlechte Nische. Wusste auch Courtney Love. Die vielen kleinen Mädchen, die Kurt-Cobain-T-Shirts kauften und dann nach und nach alle Nirvana-Alben, hatten die talentfreie Schlampe steinreich gemacht. "Komisch", dachte Peter, "bei Fußballern gibt es sogar einen Begriff dafür: Spielerfrau. Warum gab es das Wort Rockstarfrau eigentlich nicht?".


(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Dienstag, 25. Dezember 2012

Geh mir doch weg XXI: Weihnachtsblues


Na super. Der Weihnachtsblues. Pünktlich wie ein Maurer. Peter war frustriert. Seine neue Freundin hatte ihm passend zu Nikolaus nach nur knapp sechs Wochen schon wieder die Wanderstiefel vor die Tür gestellt. Keine Option für das Fest der Liebe. Er war dann in den letzten Tagen seine Alternativen durchgegangen. Zu Heiligabend hatte sich in den letzten Jahren zumeist etwas ergeben. Manchmal sehr kurzfristig. Er mochte ja nicht fragen, ob er kommen durfte, weil er Angst vor dem Alleinsein hatte. Und wer gibt schon gerne zu, dass er Weihnachten nicht weiß, was er machen soll? Es hatte sich aber bislang noch immer etwas ergeben. Peter wurde eingeladen, im Kreise von Fremdfamilien zu feiern. Er hatte nicht immer sofort angenommen. Vor allem nicht, dass das ernst gemeint war. War es aber - und kam von Herzen. War ja für ihn zumeist gar nicht fremd und auch gar nicht Familie, es waren Freunde - und die kann man sich ja Gottseidank selbst aussuchen. 

Foto (c): Thomas Ottensmann

Diese Heiligabende als Solokünstler waren schön gewesen. Seit er 2009 das letzte Mal eine langjährige Beziehung an die Wand gefahren hatte, musste er ja immer sehen, wo er blieb. Emotional vor allem. An diesem schlimmsten Tag im Jahr. Familie war für ihn keine Option. 21 Jahre Laientheater waren genug, fand Peter. Ja, diese Heiligabende als Solokünstler waren schön gewesen. Ungezwungen, locker, lustig. Dreimal in Folge hatte er bemerkt, dass man anderswo richtig schön feiern konnte, mit gemeinsamem Kochen, Spielen, vernünftiger Musik (The Jam, The Ramones, The Pogues, The Dubliners, Tom Waits)- und ohne sich spätestens beim Einstielen der Nordmann-Tanne an die Gurgel zu gehen. 

Wie im letzten Jahr, als er zum zweiten Mal in Folge bei seiner besten Freundin Anna gefeiert hatte. Anwesend: Reinhard, der Anna auf Peters Geburtstag kennengelernt hatte und der eigentlich seit 27 Jahren Peters alte VWs schraubte. Und die Blagen: Annas Töchter Isa (20) und Lena (18), die bei Peter mal ein Schülerpraktikum absolvierte hatte sowie Reinhards Sohn Paulo (21). War lustig. Man konnte Die Ärzte und Green Day hören, ohne dass die Alten ausflippten. Denn die Alten waren ja sie. Und nun? In diesem Jahr fuhr Anna mit Reinhard und Isa zu ihrem Vater, der Weihnachten zum ersten Mal als Witwer über den Jordan bringen musste. 

Was blieb? Venezia? Leider auch Fehlanzeige. Vor drei Jahren hatte er mit Venezia, mit der er mal vier Jahre lang in einem Buchladen gejobbt hatte und deren Mutter Hilde, einer ehemaligen Rockröhre aus den Siebzigern, gefeiert. Es lief den ganzen Abend 1Live. Mit Mike Litt, dem einsamsten DJ der Welt. Und heute? Hätte Peter liebend gern mit Mike Litt getauscht. Er hatte Weihnachten ja immer gerne gearbeitet. Heiligabend sowieso - zumindest in den zwölf Jahren Einzelhandel. Und dann an den Feiertagen alle Redaktionsdienste übernommen, derer er habhaft werden konnte. Gab Mitleidsbonus von seiner Mutter ("Du armer Peter, musst Du schon wieder an Weihnachten arbeiten?") und Feiertagszulage (plus 50 Prozent). Aber Peter war nicht der einsamste DJ der Welt. Nur der einsamste Peter der Welt. Denn Venezia feierte mit ihrer Mutter und ihrem neuen Lover Robbi bei dessen Familie, gemeinsam mit den beiden Hunden.

Peter hatte Heiligmittag kurz an die Bahnhofsmission gedacht. Und den Plan dann verworfen, weil er meinte, 'dieser Tag fühlt sich wie ein Samstag an, mit Markt und offenen Geschäften und allem Zipp und Zapp, also kriege ich den auch so rum wie einen handelsüblichen Samstag. Mit Badewanne und Musik und Büchern und Fernsehen.' Aber Pustekuchen. Das Kopfkino spielte "A Fairytale Of New York" und zack! war Weihnachten. Und er allein. Zum ersten Mal seit 48 Jahren. 

Foto (c): Thomas Ottensmann

Ohnehin gehörte die Adventszeit mit ihren grauenhaften Weihnachtsmärkten und diesem erhitzten Billigsüßwein und den beliebigen Fressbuden für Peter zu den schlimmsten Zeiten des Jahres. Mit dem unbestrittenen Kulminationspunkt Heiligabend, der Mutter aller Familienkatastrophen. 1. Tag, 2. Tag - eine Lachnummer, die konnte man prima mit Fernsehen und Lesen und Musik und Besuchen bei Freunden verdaddeln. Aber Heiligabend? Alles schläft, einsam wacht. Peter war schon lange wach. Hellwach. Seit 2.38 Uhr. Und einsam. Denn Ische hatte einfach munter weiter geschnorchelt. Wie clever Hunde doch sind.



(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Samstag, 22. Dezember 2012

Geh mir doch weg XX: Testosteron mit Wellengang

Peters Blut kochte. Sein Testosteron hatte ordentlich Wellengang. "Könnte man in dieser verfickten Gesellschaft 2.0 mal über Verbindlichkeit sprechen?", fragte er Ische. Die horchte auf und sah ihn erwartungsvoll und schwanzwedelnd an, weil er sie ja schließlich angesprochen hatte. Nicht allzu freundlich, schon klar, aber ganz deutlich angesprochen. Jetzt ist es ja eher unüblich, dass Hunde antworten, wenn Menschen ihnen Fragen stellen. Selbst mit einem ganz einfachen Ja oder Nein tun sich die Wölflinge da in der Regel recht schwer. Und da sind sie dann eben auch schon wieder des Menschen bester Freund. 

Was war eigentlich so schwer daran, sich verbindlich (Sonntag, 19 Uhr, Plan B, Weihnachtsbesäufnis) zu verabreden? Warum wurden aus einer im - wohlgemerkt nüchternen - Kopf  getroffenen Verabredung im Laufe von wenigen Tagen eine schwammige, lose Kann-Bestimmung? Warum meinten immer alle, es sei völlig in Ordnung, kurzfristig (und damit ist wirklich kurzfristig gemeint, also zwei Minuten vor dem Termin, wenn der andere da schon sitzt und wartet) per SMS launig und ohne Begründung abzusagen, weil man einfach nur zu faul ist, vom Sofa aufzustehen. Oder weil man gerade lieber "Bauer sucht Frau" oder irgend einen anderen hirnzersetzenden Schwachsinn gucken muss. Aus einem "Ich komme auf jeden Fall" wird dann langsam aber sicher ein wachsweiches "Ich weiß es noch nicht so genau" oder ein - das Schlimmste von allen - "Lass uns noch mal telefonieren". 

Peter wollte nicht noch mal telefonieren müssen, um eine verbindliche Verabredung zu verabreden, die ja längst und schon lange verbindlich verabredet war. Und zwar in einem persönlichen Kontakt von Angesicht zu Angesicht. Er knibbelte an seinem Nagelhäutchen. Nie ein gutes Zeichen. Vor allem nicht für das Nagelhäutchen. "Spinnen die denn heutzutage eigentlich alle?". Er brodelte. 

Warum war es in diesen seltsamen Zeiten nicht mehr möglich, sich wie früher zu verabreden? In den 80ern oder 90ern? Dienstag um acht in der Kneipe. Kann halb neun werden. Dann traf man sich. Alle waren da. Wurde vielleicht auch viertel vor neun. Aber keiner kam auf die Idee zu sagen, lass uns doch noch mal telefonieren. Ich schicke noch mal ne SMS. Oder ne Mail. Oder ne persönliche Facebook-Nachricht, verschwörerisch 'PN' genannt. Vielleicht, weil es früher gar keine SMS gab? Weil es gottseidank noch kein Handy gab? Und damit auch keine Menschen, die bei Aldi in der Warteschlange an der Kasse laut über die schlimmen Probleme mit ihrer Analfissur sprachen. Und weil die Eltern am Festnetz immer mithörten, weil die Schnur so kurz war. Und das Telefonieren angeblich so superteuer? Und kein Internet? Und schon mal gar kein Facebook, dieses moderne graue Männchen, das unbarmherzig Zeit stahl? Warum hatten heute eigentlich alle keine Zeit mehr? 

Scheinbar verhielt es sich doch so: Mit der technischen Möglichkeit auch kurzfristig abzusagen, erhöhte sich offenbar die Wahrscheinlichkeit, kurzfristig abzusagen. Weil es so einfach ist. So schnell geht. Auf jeden Fall den richtigen Adressaten trifft. Aber Peter ging es ja um etwas ganz anderes. Verbindliche Zusagen oder verbindliche Absagen. Ein klares Ja oder ein klares Nein. Auf das man sich dann verlassen konnte. Basta. Verbindlichkeit und Verlässlichkeit. Ein aussterbendes Wortpaar. 

Was war daran eigentlich so schwierig? Er konnte mit einem klaren Nein gut leben, hatte genug davon in seinem Leben kassiert. Über Gebühr sogar. Aber das war okay. Bleibt ja nicht aus in so einem Leben, das eine oder andere Nein zu kassieren. Aber selbst für ein verbindliches Nein standen die Zeichen in diesen seltsamen Zeiten eher schlecht. Alle hielten sich immer alles offen. Bis zum Schluss. Bis kurz vor knapp. Könnte ja noch was Besseres kommen. Eine Blondine auf nem weißen Pferd. Oder ein quersitzender Pups.


(Foto: Thomas Ottensmann)

Aber nicht mit ihm. Sie konnten ihn alle mal. Peter sagte verbindlich "Feierabend! Nicht mit mir. Ihr könnt mich alle mal!" und verschickte diese frohe Botschaft an den großen Verteiler. Via SMS, E-Mail und Facebook-Nachricht (PN). Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr, dachte Peter und holte sich noch eine Dose Guinness aus dem Kühlschrank.


(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Dienstag, 18. Dezember 2012

Geh mir doch weg XIX: Jede Menge Schotter

Soviel Schotter hatte Peter noch nie gesehen. Zumindest nicht auf einem Haufen. Dumm nur, dass der Schotter jetzt in seiner Auffahrt lag. Neben den amputierten Ästen der Magnolie. Und den beiden Bitumen-Fässern. Und den Resten der neuen Plastik-Abwasserrohre. Und den Resten der alten, zertrümmerten Steingut-Rohre. Und den abgedeckten Gehwegplatten. Und hinter dem Mini-Bagger. Ja, so sieht ein gepflegter Vorgarten aus, dachte Peter, als er in seiner Einfahrt stand. Fehlt nur noch die Lichterkette im Verschnitt. Peter hatte etwas übrig für Weihnachtsdeko, wie er ohnehin ein Faible für das Fest der Liebe und des Konsumrauschs hatte. So romantisch. So harmonisch. So friedvoll. Ja, dachte Peter beseelt, Weihnachten kann kommen.

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Schließlich hatte er wieder Wasser. Sogar fließendes. Manchmal sogar warmes. Das zeichnete sich anfangs nicht direkt ab. Denn nach dem doppelten Wasserrohrbuch hatte die Versicherung ihm recht schnell deutlich gemacht, dass es sich „leider nicht um einen Versicherungsfall“ handelte. Ja, sie hatten wirklich von „leider nicht“ gesprochen und als Peter ungläubig in der Police nachlas, bemerkte er erst jetzt, dass es 2006, kurz nach der bejubelten Übernahme der recht günstigen Altversicherung eine klammheimliche Anpassung der Police gegeben hatte. Mit der Folge, dass die Versicherung 12 Euro im Jahr weniger kostete. Und dem Kleingedruckten, dass Leitungen außerhalb des Hauses nicht mehr mitversichert seien.

Und jetzt: Kein Versicherungsfall. Sondern natürlicher Verschleiß. Natürlich. Bei Verschleiß dachte Peter jetzt eher an seine Nerven, als an die prähistorischen Steingutrohre, die sie mühsamst aus dem Erdreich unter der Einfahrt vor der Garage gebuddelt hatten. Mussten aus den späten Sechzigern sein, damals war der Anbau an das halbe Haus gesetzt worden. Und im freien Spiel der Kräfte hatten die Jungs damals die Leitungen nach Lust und Laune verlegt. Und nicht etwa der Nase nach, auf direktem und kürzesten Weg zum Kanalanschluss.

Ja, sie hatten ein klein wenig suchen müssen - einen halben Tag lang, um genau zu sein - hatten dabei die Magnolie verstümmelt, nur um rauszufinden, wo zum Teufel die Abwasserleitung verlief. Als sie dann einen Kanalortungsdienst bestellten, um endlich Sicherheit zu bekommen (in den Plänen der Stadt und in denen der Stadtwerke war zwar alles fein verzeichnet, aber leider falsch), fiel der erste Schnee. Mit dem ersten Frost zusammen ein Hindernis, das mühelos jeder Spitzhacke trotzte. Nun also im Frühjahr nochmal fröhliches Schachten im eigenen Vorgarten. Kostet ja auch nix, dachte Peter. Aber half ja auch nix, musste ja gemacht werden. Zumindest sah es wieder gut aus, was die Pflanzen im 50 Jahre alten, grünen Entree zum halben Haus anging.

(Foto (c): Thomas Ottensmann)


Selbst die Magnolie, deren Wurzelwerk tief in die Rohre gedrungen war und die so für die ersten umjubelten Überschwemmungen im Keller gesorgt hatte, konnte wohl ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten. Also hatte es sich doch gelohnt. Der Baum  bleibt. Peter freute sich schon auf die Blüte im Frühjahr. Dann würde er dort am Fenster, an seinem uralten Sekretär sitzen und dem Baum beim Blühen zugucken. Wenn alles gut ging. Bis dahin musste er sich nur überlegen, wie er diesmal das Geld auftreiben sollte. Was das alles kosten würde. Peter harkte lustlos den Schotter zusammen. Er summte leise "A Fairytale Of New York" von den Pogues vor sich hin. Sein Lieblingsweihnachtslied. "Happy Christmas, Your Arse. Maybe it's Your Last." Peter hatte die Auffahrt nun ziemlich geglättet. Jede Menge Schotter. Ja, dachte er dezent angepisst, Weihnachten kann wirklich kommen.



The Pogues - A Fairytale Of New York


(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Sonntag, 2. Dezember 2012

Geh mir doch weg XVIII: Auf einer Arschbacke


„Danke für Dasein, Kommen und Bleiben.“ Die Danksagung war fertig. Aber Zweifel blieben. Müsste es nicht vielmehr „Danke für Kommen, Dasein und Bleiben“ heißen? Wie konnte man da sein und bleiben, ohne vorher zu kommen? Doch Peter Wunderlich fand es stimmig. Und sinnig. Ging ja um viel mehr, als einfach nur um bloße Anwesenheit. „Danke für Dasein, Kommen und Bleiben.“ Basta. Die Wahrheit Zwanzig12 war endlich fertig. Ein Doppelalbum, mal wieder. Knapp 144 Minuten Musik. 40 Stücke. 'Zeilendisziplin war wirklich noch nie meine Stärke', dachte Peter und schubberte sich den Fünf-Tage-Bart. Ische jippste im Schlaf. Ihre Pfoten zuckten. „Na, kleines Mädchen. Widder auf Kaninchenjagd?“, wisperte Peter. Weniger um seine Hündin, die sich auf seinem Ex-Sofa breit gemacht hatte, nicht zu wecken als vielmehr, um nicht noch mehr Unruhe im Haus zu verbreiten als ohnehin schon. 4Uhr33 zeigte die Digitaluhr auf seinem Schreibtisch.  Komisch, dachte Peter. Gute Alben werden nachts geboren. Ist wie mit Kindern und Examensarbeiten. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Das Abmischen war immer der schwierigste Akt bei diesen modernen Mixtapes auf CD. Die Reihenfolge der Songs. Der Spannungsbogen. Ein paar Überraschungsmomente. Eine gute Bridge zwischen englischen und deutschen Titeln. Doch immer, wenn er mit seinem neuesten Album fertig war, kam die nächste Hürde, die ihn - und nicht zuletzt seinen Drucker - an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Das Artwork. Welche Bilder wollte er verwenden und warum? Wobei sich die Frage nach dem 'Warum' zumeist gar nicht wirklich stellte. Peter ging dann die Fotos des Jahres durch, die schon seit langem aus dem Handy und der Digitalkamera und nicht mehr aus seiner Spiegelreflexkamera kamen, in der zwar immer ein Schwarz-Weißfilm (Ilford, 400 Asa) eingelegt war, die er aber nur noch ganz selten und nur noch zu besonderen Anlässen zückte. 36 Aufnahmen. Und dann Feierabend. Unwiderruflich. Dann ab zur Entwicklung, drei Tage warten, erwartungsvoll den Umschlag öffnen - und enttäuscht sein, dass nur drei oder vier Fotos wirklich seinen Ansprüchen genügten.

Ja, die analoge Fotographie war anachronistisch. Aber irgendwie auch großartig. Doch seit es immer schwieriger geworden war, Filme und Entwicklungslabore für Schwarz-Weiß-Aufnahmen zu finden, hatte Peter sein Hobby fast ganz auf digitale Schnappschüsse beschränkt. Diese neuen Smartphones machten aber auch wirklich gute Bilder. Und es war so einfach, die weiter zu bearbeiten und anzupassen. Und auf Facebook in die Welt hinauszuposaunen. Aber war das eigentlich der Sinn der Fotographie? War die Bedächtigkeit, die Achtsamkeit, mit denen er und seine uralte Canon-Spiegelreflex (AE 1 Programm) auf Motivsuche ging und hernach das spannende Warten auf die entwickelten Fotos und den Kontaktabzug nicht das wesentlich größere Gut? Sicher, das war es. Aber im Alltag seine Knipse irgendwie immer dabei zu haben, um auch seltene Momente festhalten zu können, war auch nicht so schlecht. Da hielt es Peter wie mit der Musik. Digitale Mucke aus dem iPod war für unterwegs völlig in Ordnung. Wie Radio-Mucke. 'Wegwerf-Pop' nannte Peter das. Aber bewusst und voller Befriedigung hörte er Musik eigentlich nur, wenn er eine Nadel in die Rille setzen konnte und nach zwanzig Minuten die Platte umdrehen musste. 

Ja, Peter war altmodisch. Retro durch Zufall. Oder aus Überzeugung? Egal. Kleinbildfilm. Vinyl-Schallplatten. Hardcover-Bücher. Hätte er das nötige Kleingeld in der Tasche gehabt, er würde 'Die Wahrheit' längst nur noch als kleine Auflage in Vinyl pressen. Er wusste, dass das sein Kumpel Rüdiger, mit dem er früher zusammen Schallplatten verkauft hatte, mal gemacht hatte. Mit einem Bootleg von Bob Dylan. Dass sogar der damalige A&R-Manager der deutschen Plattenfirma Dylans gekauft hatte. Er wusste deshalb auch, dass 500 die kleinstmögliche Auflage war, dass die guten Presswerke in Tschechien standen und dass das zwischen 6 und 8 Euro pro Stück kosten würde. Falls die Tschechen in ihrem Presswerk nicht längst die Preise deutlich erhöht hatten. Vinyl war ja mittlerweile längst ein Sammlerobjekt geworden, für das Höchstpreise gefordert und gezahlt wurde. Er wusste aber auch, dass er sich damit dann so richtig strafbar machen würde. Er hatte schließlich weder die Rechte an den Stücken, noch die Genehmigung zur Vervielfältigung und schon mal gar nicht zur Fertigung von Tonträgern mit diesen Stücken. Und dass Rüdiger seit seiner Expedition ins Bootleg-Land der unendlichen Möglichkeiten auf der Flucht vor den Häschern der Gema war, war auch kein Geheimnis. Also lieber weiter das private Presswerk aus dem Hause Philips ackern lassen. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Er hatte die sieben Fotos mittlerweile ausgewählt. Ging dann doch erstaunlich schnell. Credits und Tracklisting waren auch fertig. Jetzt also nur noch kopieren und brennen. Peter und seine Freunde hatten schon vor Jahren aufgehört, sich an Weihnachten gegenseitig zu beschenken. Wurde halt nicht leichter, wenn man sich 30 und mehr Jahre kannte. Aber Peter konnte es natürlich auch nicht lassen, ihnen zumindest 'Die Wahrheit' unter den Baum zu legen. Um keine Gegengeschenke zu provozieren nannte er diese CDs einfach seine „Jahresgaben“. Oder „Jahresendtonträger“. Nix mit Fest der Liebe und so. Höchstens ein kleines Mitbringsel zum 3. Weihnachtstag, den sie in kleinem Kreis gern am 27. Dezember feierten. Mit Angrillen, draußen unterm Carport rumlungern und behandschuht Bier trinken. Und für die Frauen gab's Glühwein im beheizten Huckehäuschen. 


Der Funkwecker zeigte in blutroten Ziffern 05Uhr05 und er wollte, dass die CD so schnell wie möglich rausging. Um rechtzeitig anzukommen. Schließlich hatte Walter am 4. Dezember Geburtstag und da konnte so ein bisschen Wahrheit ja wohl nicht schaden. 29 Tage zu früh fertig geworden, dachte Peter und war mit sich zufrieden. Jetzt konnte das Jahr in Ruhe ausklingen. Peter war froh, dass es jetzt fast vorbei war. Er hatte definitiv schon bessere Jahre gesehen. 'Die letzten vier Wochen sitze ich doch auf einer Arschbacke ab', dachte Peter, als er das Päckchen mit der Aufschrift "Die Wahrheit inside" zum Briefkasten brachte. Derweil tropfte es im Keller längst wieder aus der Wand.

(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)