Samstag, 29. Dezember 2012

Geh mir doch weg XXIII: Mundsuppe


Peter hatte Speichelfluss. Ganz schlimm. Mundsuppe, wie man im Sauerland sagte. Hatte sich arglos bei Facebook über Currywurst und Pommes unterhalten, hatte nach einem passenden Bildchen gesucht und zack! - schon lief die Spucke. Mundsuppe. Hatte seine Omma immer gesagt. Wenn die Enkel mal wieder um die Kochtöpfe lungerten und auf das Sonntagsessen warteten. Im Hochsauerland bei Peters Großeltern wurde, nunja, eher selten vegan gekocht. Schweinebraten, Gulasch, Sauerbraten, Rindsrouladen (mit Schweinemett gefüllt), grobe Bratwurst im Speckmantel, Schweineschnitzel (Wiener Art) und später: Steak. Dazu verkochtes Gemüse und verkochte Kartoffeln, ab und zu verkochter Rotkohl. Bratkartoffeln (mit Speck) und Spiegelei war schon das Vegetarischste, was seine Omma und später dann auch Peters Mutter, die ja bei seiner Omma in die Lehre gegangen war, zustande brachte. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Da im Sauerland aber niemand, der recht bei Trost war, in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern überhaupt nur auf die Idee gekommen wäre, sich von verkochtem Gemüse ernähren zu wollen, war das auch gar nicht nötig. Sie hätte wahrscheinlich auf die Aufforderung "Koch doch mal was Vegetarisches" geantwortet: "Gut, mache ich halt Hühnchen." Das hatte jedenfalls seine Omma gesagt, als Peters älterer Bruder in den frühen Neunzigern seine vegetarische Phase hatte. So waren sie halt, die Südwestfalen. Hatten das Herz am rechten Fleck. Und immer Angst, nicht satt zu werden. Und wäre es nicht Heinz Strunk gewesen, der seinerzeit diesen ebenso philosophischen wie wahren Satz geprägt hätte, er hätte aus einem Sauerländer Schlund, tschulligung  Mund kommen müssen: Fleisch ist mein Gemüse. 

(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Donnerstag, 27. Dezember 2012

Geh mir doch weg XXII: Yoko Ono reich machen


"John Lennon ist sauber", sagte Peter. Bettina suchte in den schmutzigen Tassen auf dem Küchentisch nach einem noch halbwegs brauchbaren Exemplar, um sich ungefragt einen löslichen Kaffee zu kochen. Er wollte alles andere als Yoko Ono reich machen. Zumal das gar nicht ging. War schon. 


(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Aber so lief das nun mal: Wer eine John-Lennon-Tasse kaufte, machte Yoko Ono reicher. Wer "Imagine" und "Instant Karma" bei iTunes runterlud, ebenso. Geschäftsmodell Witwe. Keine schlechte Nische. Wusste auch Courtney Love. Die vielen kleinen Mädchen, die Kurt-Cobain-T-Shirts kauften und dann nach und nach alle Nirvana-Alben, hatten die talentfreie Schlampe steinreich gemacht. "Komisch", dachte Peter, "bei Fußballern gibt es sogar einen Begriff dafür: Spielerfrau. Warum gab es das Wort Rockstarfrau eigentlich nicht?".


(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Dienstag, 25. Dezember 2012

Geh mir doch weg XXI: Weihnachtsblues


Na super. Der Weihnachtsblues. Pünktlich wie ein Maurer. Peter war frustriert. Seine neue Freundin hatte ihm passend zu Nikolaus nach nur knapp sechs Wochen schon wieder die Wanderstiefel vor die Tür gestellt. Keine Option für das Fest der Liebe. Er war dann in den letzten Tagen seine Alternativen durchgegangen. Zu Heiligabend hatte sich in den letzten Jahren zumeist etwas ergeben. Manchmal sehr kurzfristig. Er mochte ja nicht fragen, ob er kommen durfte, weil er Angst vor dem Alleinsein hatte. Und wer gibt schon gerne zu, dass er Weihnachten nicht weiß, was er machen soll? Es hatte sich aber bislang noch immer etwas ergeben. Peter wurde eingeladen, im Kreise von Fremdfamilien zu feiern. Er hatte nicht immer sofort angenommen. Vor allem nicht, dass das ernst gemeint war. War es aber - und kam von Herzen. War ja für ihn zumeist gar nicht fremd und auch gar nicht Familie, es waren Freunde - und die kann man sich ja Gottseidank selbst aussuchen. 

Foto (c): Thomas Ottensmann

Diese Heiligabende als Solokünstler waren schön gewesen. Seit er 2009 das letzte Mal eine langjährige Beziehung an die Wand gefahren hatte, musste er ja immer sehen, wo er blieb. Emotional vor allem. An diesem schlimmsten Tag im Jahr. Familie war für ihn keine Option. 21 Jahre Laientheater waren genug, fand Peter. Ja, diese Heiligabende als Solokünstler waren schön gewesen. Ungezwungen, locker, lustig. Dreimal in Folge hatte er bemerkt, dass man anderswo richtig schön feiern konnte, mit gemeinsamem Kochen, Spielen, vernünftiger Musik (The Jam, The Ramones, The Pogues, The Dubliners, Tom Waits)- und ohne sich spätestens beim Einstielen der Nordmann-Tanne an die Gurgel zu gehen. 

Wie im letzten Jahr, als er zum zweiten Mal in Folge bei seiner besten Freundin Anna gefeiert hatte. Anwesend: Reinhard, der Anna auf Peters Geburtstag kennengelernt hatte und der eigentlich seit 27 Jahren Peters alte VWs schraubte. Und die Blagen: Annas Töchter Isa (20) und Lena (18), die bei Peter mal ein Schülerpraktikum absolvierte hatte sowie Reinhards Sohn Paulo (21). War lustig. Man konnte Die Ärzte und Green Day hören, ohne dass die Alten ausflippten. Denn die Alten waren ja sie. Und nun? In diesem Jahr fuhr Anna mit Reinhard und Isa zu ihrem Vater, der Weihnachten zum ersten Mal als Witwer über den Jordan bringen musste. 

Was blieb? Venezia? Leider auch Fehlanzeige. Vor drei Jahren hatte er mit Venezia, mit der er mal vier Jahre lang in einem Buchladen gejobbt hatte und deren Mutter Hilde, einer ehemaligen Rockröhre aus den Siebzigern, gefeiert. Es lief den ganzen Abend 1Live. Mit Mike Litt, dem einsamsten DJ der Welt. Und heute? Hätte Peter liebend gern mit Mike Litt getauscht. Er hatte Weihnachten ja immer gerne gearbeitet. Heiligabend sowieso - zumindest in den zwölf Jahren Einzelhandel. Und dann an den Feiertagen alle Redaktionsdienste übernommen, derer er habhaft werden konnte. Gab Mitleidsbonus von seiner Mutter ("Du armer Peter, musst Du schon wieder an Weihnachten arbeiten?") und Feiertagszulage (plus 50 Prozent). Aber Peter war nicht der einsamste DJ der Welt. Nur der einsamste Peter der Welt. Denn Venezia feierte mit ihrer Mutter und ihrem neuen Lover Robbi bei dessen Familie, gemeinsam mit den beiden Hunden.

Peter hatte Heiligmittag kurz an die Bahnhofsmission gedacht. Und den Plan dann verworfen, weil er meinte, 'dieser Tag fühlt sich wie ein Samstag an, mit Markt und offenen Geschäften und allem Zipp und Zapp, also kriege ich den auch so rum wie einen handelsüblichen Samstag. Mit Badewanne und Musik und Büchern und Fernsehen.' Aber Pustekuchen. Das Kopfkino spielte "A Fairytale Of New York" und zack! war Weihnachten. Und er allein. Zum ersten Mal seit 48 Jahren. 

Foto (c): Thomas Ottensmann

Ohnehin gehörte die Adventszeit mit ihren grauenhaften Weihnachtsmärkten und diesem erhitzten Billigsüßwein und den beliebigen Fressbuden für Peter zu den schlimmsten Zeiten des Jahres. Mit dem unbestrittenen Kulminationspunkt Heiligabend, der Mutter aller Familienkatastrophen. 1. Tag, 2. Tag - eine Lachnummer, die konnte man prima mit Fernsehen und Lesen und Musik und Besuchen bei Freunden verdaddeln. Aber Heiligabend? Alles schläft, einsam wacht. Peter war schon lange wach. Hellwach. Seit 2.38 Uhr. Und einsam. Denn Ische hatte einfach munter weiter geschnorchelt. Wie clever Hunde doch sind.



(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Samstag, 22. Dezember 2012

Geh mir doch weg XX: Testosteron mit Wellengang

Peters Blut kochte. Sein Testosteron hatte ordentlich Wellengang. "Könnte man in dieser verfickten Gesellschaft 2.0 mal über Verbindlichkeit sprechen?", fragte er Ische. Die horchte auf und sah ihn erwartungsvoll und schwanzwedelnd an, weil er sie ja schließlich angesprochen hatte. Nicht allzu freundlich, schon klar, aber ganz deutlich angesprochen. Jetzt ist es ja eher unüblich, dass Hunde antworten, wenn Menschen ihnen Fragen stellen. Selbst mit einem ganz einfachen Ja oder Nein tun sich die Wölflinge da in der Regel recht schwer. Und da sind sie dann eben auch schon wieder des Menschen bester Freund. 

Was war eigentlich so schwer daran, sich verbindlich (Sonntag, 19 Uhr, Plan B, Weihnachtsbesäufnis) zu verabreden? Warum wurden aus einer im - wohlgemerkt nüchternen - Kopf  getroffenen Verabredung im Laufe von wenigen Tagen eine schwammige, lose Kann-Bestimmung? Warum meinten immer alle, es sei völlig in Ordnung, kurzfristig (und damit ist wirklich kurzfristig gemeint, also zwei Minuten vor dem Termin, wenn der andere da schon sitzt und wartet) per SMS launig und ohne Begründung abzusagen, weil man einfach nur zu faul ist, vom Sofa aufzustehen. Oder weil man gerade lieber "Bauer sucht Frau" oder irgend einen anderen hirnzersetzenden Schwachsinn gucken muss. Aus einem "Ich komme auf jeden Fall" wird dann langsam aber sicher ein wachsweiches "Ich weiß es noch nicht so genau" oder ein - das Schlimmste von allen - "Lass uns noch mal telefonieren". 

Peter wollte nicht noch mal telefonieren müssen, um eine verbindliche Verabredung zu verabreden, die ja längst und schon lange verbindlich verabredet war. Und zwar in einem persönlichen Kontakt von Angesicht zu Angesicht. Er knibbelte an seinem Nagelhäutchen. Nie ein gutes Zeichen. Vor allem nicht für das Nagelhäutchen. "Spinnen die denn heutzutage eigentlich alle?". Er brodelte. 

Warum war es in diesen seltsamen Zeiten nicht mehr möglich, sich wie früher zu verabreden? In den 80ern oder 90ern? Dienstag um acht in der Kneipe. Kann halb neun werden. Dann traf man sich. Alle waren da. Wurde vielleicht auch viertel vor neun. Aber keiner kam auf die Idee zu sagen, lass uns doch noch mal telefonieren. Ich schicke noch mal ne SMS. Oder ne Mail. Oder ne persönliche Facebook-Nachricht, verschwörerisch 'PN' genannt. Vielleicht, weil es früher gar keine SMS gab? Weil es gottseidank noch kein Handy gab? Und damit auch keine Menschen, die bei Aldi in der Warteschlange an der Kasse laut über die schlimmen Probleme mit ihrer Analfissur sprachen. Und weil die Eltern am Festnetz immer mithörten, weil die Schnur so kurz war. Und das Telefonieren angeblich so superteuer? Und kein Internet? Und schon mal gar kein Facebook, dieses moderne graue Männchen, das unbarmherzig Zeit stahl? Warum hatten heute eigentlich alle keine Zeit mehr? 

Scheinbar verhielt es sich doch so: Mit der technischen Möglichkeit auch kurzfristig abzusagen, erhöhte sich offenbar die Wahrscheinlichkeit, kurzfristig abzusagen. Weil es so einfach ist. So schnell geht. Auf jeden Fall den richtigen Adressaten trifft. Aber Peter ging es ja um etwas ganz anderes. Verbindliche Zusagen oder verbindliche Absagen. Ein klares Ja oder ein klares Nein. Auf das man sich dann verlassen konnte. Basta. Verbindlichkeit und Verlässlichkeit. Ein aussterbendes Wortpaar. 

Was war daran eigentlich so schwierig? Er konnte mit einem klaren Nein gut leben, hatte genug davon in seinem Leben kassiert. Über Gebühr sogar. Aber das war okay. Bleibt ja nicht aus in so einem Leben, das eine oder andere Nein zu kassieren. Aber selbst für ein verbindliches Nein standen die Zeichen in diesen seltsamen Zeiten eher schlecht. Alle hielten sich immer alles offen. Bis zum Schluss. Bis kurz vor knapp. Könnte ja noch was Besseres kommen. Eine Blondine auf nem weißen Pferd. Oder ein quersitzender Pups.


(Foto: Thomas Ottensmann)

Aber nicht mit ihm. Sie konnten ihn alle mal. Peter sagte verbindlich "Feierabend! Nicht mit mir. Ihr könnt mich alle mal!" und verschickte diese frohe Botschaft an den großen Verteiler. Via SMS, E-Mail und Facebook-Nachricht (PN). Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr, dachte Peter und holte sich noch eine Dose Guinness aus dem Kühlschrank.


(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Dienstag, 18. Dezember 2012

Geh mir doch weg XIX: Jede Menge Schotter

Soviel Schotter hatte Peter noch nie gesehen. Zumindest nicht auf einem Haufen. Dumm nur, dass der Schotter jetzt in seiner Auffahrt lag. Neben den amputierten Ästen der Magnolie. Und den beiden Bitumen-Fässern. Und den Resten der neuen Plastik-Abwasserrohre. Und den Resten der alten, zertrümmerten Steingut-Rohre. Und den abgedeckten Gehwegplatten. Und hinter dem Mini-Bagger. Ja, so sieht ein gepflegter Vorgarten aus, dachte Peter, als er in seiner Einfahrt stand. Fehlt nur noch die Lichterkette im Verschnitt. Peter hatte etwas übrig für Weihnachtsdeko, wie er ohnehin ein Faible für das Fest der Liebe und des Konsumrauschs hatte. So romantisch. So harmonisch. So friedvoll. Ja, dachte Peter beseelt, Weihnachten kann kommen.

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Schließlich hatte er wieder Wasser. Sogar fließendes. Manchmal sogar warmes. Das zeichnete sich anfangs nicht direkt ab. Denn nach dem doppelten Wasserrohrbuch hatte die Versicherung ihm recht schnell deutlich gemacht, dass es sich „leider nicht um einen Versicherungsfall“ handelte. Ja, sie hatten wirklich von „leider nicht“ gesprochen und als Peter ungläubig in der Police nachlas, bemerkte er erst jetzt, dass es 2006, kurz nach der bejubelten Übernahme der recht günstigen Altversicherung eine klammheimliche Anpassung der Police gegeben hatte. Mit der Folge, dass die Versicherung 12 Euro im Jahr weniger kostete. Und dem Kleingedruckten, dass Leitungen außerhalb des Hauses nicht mehr mitversichert seien.

Und jetzt: Kein Versicherungsfall. Sondern natürlicher Verschleiß. Natürlich. Bei Verschleiß dachte Peter jetzt eher an seine Nerven, als an die prähistorischen Steingutrohre, die sie mühsamst aus dem Erdreich unter der Einfahrt vor der Garage gebuddelt hatten. Mussten aus den späten Sechzigern sein, damals war der Anbau an das halbe Haus gesetzt worden. Und im freien Spiel der Kräfte hatten die Jungs damals die Leitungen nach Lust und Laune verlegt. Und nicht etwa der Nase nach, auf direktem und kürzesten Weg zum Kanalanschluss.

Ja, sie hatten ein klein wenig suchen müssen - einen halben Tag lang, um genau zu sein - hatten dabei die Magnolie verstümmelt, nur um rauszufinden, wo zum Teufel die Abwasserleitung verlief. Als sie dann einen Kanalortungsdienst bestellten, um endlich Sicherheit zu bekommen (in den Plänen der Stadt und in denen der Stadtwerke war zwar alles fein verzeichnet, aber leider falsch), fiel der erste Schnee. Mit dem ersten Frost zusammen ein Hindernis, das mühelos jeder Spitzhacke trotzte. Nun also im Frühjahr nochmal fröhliches Schachten im eigenen Vorgarten. Kostet ja auch nix, dachte Peter. Aber half ja auch nix, musste ja gemacht werden. Zumindest sah es wieder gut aus, was die Pflanzen im 50 Jahre alten, grünen Entree zum halben Haus anging.

(Foto (c): Thomas Ottensmann)


Selbst die Magnolie, deren Wurzelwerk tief in die Rohre gedrungen war und die so für die ersten umjubelten Überschwemmungen im Keller gesorgt hatte, konnte wohl ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten. Also hatte es sich doch gelohnt. Der Baum  bleibt. Peter freute sich schon auf die Blüte im Frühjahr. Dann würde er dort am Fenster, an seinem uralten Sekretär sitzen und dem Baum beim Blühen zugucken. Wenn alles gut ging. Bis dahin musste er sich nur überlegen, wie er diesmal das Geld auftreiben sollte. Was das alles kosten würde. Peter harkte lustlos den Schotter zusammen. Er summte leise "A Fairytale Of New York" von den Pogues vor sich hin. Sein Lieblingsweihnachtslied. "Happy Christmas, Your Arse. Maybe it's Your Last." Peter hatte die Auffahrt nun ziemlich geglättet. Jede Menge Schotter. Ja, dachte er dezent angepisst, Weihnachten kann wirklich kommen.



The Pogues - A Fairytale Of New York


(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Sonntag, 2. Dezember 2012

Geh mir doch weg XVIII: Auf einer Arschbacke


„Danke für Dasein, Kommen und Bleiben.“ Die Danksagung war fertig. Aber Zweifel blieben. Müsste es nicht vielmehr „Danke für Kommen, Dasein und Bleiben“ heißen? Wie konnte man da sein und bleiben, ohne vorher zu kommen? Doch Peter Wunderlich fand es stimmig. Und sinnig. Ging ja um viel mehr, als einfach nur um bloße Anwesenheit. „Danke für Dasein, Kommen und Bleiben.“ Basta. Die Wahrheit Zwanzig12 war endlich fertig. Ein Doppelalbum, mal wieder. Knapp 144 Minuten Musik. 40 Stücke. 'Zeilendisziplin war wirklich noch nie meine Stärke', dachte Peter und schubberte sich den Fünf-Tage-Bart. Ische jippste im Schlaf. Ihre Pfoten zuckten. „Na, kleines Mädchen. Widder auf Kaninchenjagd?“, wisperte Peter. Weniger um seine Hündin, die sich auf seinem Ex-Sofa breit gemacht hatte, nicht zu wecken als vielmehr, um nicht noch mehr Unruhe im Haus zu verbreiten als ohnehin schon. 4Uhr33 zeigte die Digitaluhr auf seinem Schreibtisch.  Komisch, dachte Peter. Gute Alben werden nachts geboren. Ist wie mit Kindern und Examensarbeiten. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Das Abmischen war immer der schwierigste Akt bei diesen modernen Mixtapes auf CD. Die Reihenfolge der Songs. Der Spannungsbogen. Ein paar Überraschungsmomente. Eine gute Bridge zwischen englischen und deutschen Titeln. Doch immer, wenn er mit seinem neuesten Album fertig war, kam die nächste Hürde, die ihn - und nicht zuletzt seinen Drucker - an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Das Artwork. Welche Bilder wollte er verwenden und warum? Wobei sich die Frage nach dem 'Warum' zumeist gar nicht wirklich stellte. Peter ging dann die Fotos des Jahres durch, die schon seit langem aus dem Handy und der Digitalkamera und nicht mehr aus seiner Spiegelreflexkamera kamen, in der zwar immer ein Schwarz-Weißfilm (Ilford, 400 Asa) eingelegt war, die er aber nur noch ganz selten und nur noch zu besonderen Anlässen zückte. 36 Aufnahmen. Und dann Feierabend. Unwiderruflich. Dann ab zur Entwicklung, drei Tage warten, erwartungsvoll den Umschlag öffnen - und enttäuscht sein, dass nur drei oder vier Fotos wirklich seinen Ansprüchen genügten.

Ja, die analoge Fotographie war anachronistisch. Aber irgendwie auch großartig. Doch seit es immer schwieriger geworden war, Filme und Entwicklungslabore für Schwarz-Weiß-Aufnahmen zu finden, hatte Peter sein Hobby fast ganz auf digitale Schnappschüsse beschränkt. Diese neuen Smartphones machten aber auch wirklich gute Bilder. Und es war so einfach, die weiter zu bearbeiten und anzupassen. Und auf Facebook in die Welt hinauszuposaunen. Aber war das eigentlich der Sinn der Fotographie? War die Bedächtigkeit, die Achtsamkeit, mit denen er und seine uralte Canon-Spiegelreflex (AE 1 Programm) auf Motivsuche ging und hernach das spannende Warten auf die entwickelten Fotos und den Kontaktabzug nicht das wesentlich größere Gut? Sicher, das war es. Aber im Alltag seine Knipse irgendwie immer dabei zu haben, um auch seltene Momente festhalten zu können, war auch nicht so schlecht. Da hielt es Peter wie mit der Musik. Digitale Mucke aus dem iPod war für unterwegs völlig in Ordnung. Wie Radio-Mucke. 'Wegwerf-Pop' nannte Peter das. Aber bewusst und voller Befriedigung hörte er Musik eigentlich nur, wenn er eine Nadel in die Rille setzen konnte und nach zwanzig Minuten die Platte umdrehen musste. 

Ja, Peter war altmodisch. Retro durch Zufall. Oder aus Überzeugung? Egal. Kleinbildfilm. Vinyl-Schallplatten. Hardcover-Bücher. Hätte er das nötige Kleingeld in der Tasche gehabt, er würde 'Die Wahrheit' längst nur noch als kleine Auflage in Vinyl pressen. Er wusste, dass das sein Kumpel Rüdiger, mit dem er früher zusammen Schallplatten verkauft hatte, mal gemacht hatte. Mit einem Bootleg von Bob Dylan. Dass sogar der damalige A&R-Manager der deutschen Plattenfirma Dylans gekauft hatte. Er wusste deshalb auch, dass 500 die kleinstmögliche Auflage war, dass die guten Presswerke in Tschechien standen und dass das zwischen 6 und 8 Euro pro Stück kosten würde. Falls die Tschechen in ihrem Presswerk nicht längst die Preise deutlich erhöht hatten. Vinyl war ja mittlerweile längst ein Sammlerobjekt geworden, für das Höchstpreise gefordert und gezahlt wurde. Er wusste aber auch, dass er sich damit dann so richtig strafbar machen würde. Er hatte schließlich weder die Rechte an den Stücken, noch die Genehmigung zur Vervielfältigung und schon mal gar nicht zur Fertigung von Tonträgern mit diesen Stücken. Und dass Rüdiger seit seiner Expedition ins Bootleg-Land der unendlichen Möglichkeiten auf der Flucht vor den Häschern der Gema war, war auch kein Geheimnis. Also lieber weiter das private Presswerk aus dem Hause Philips ackern lassen. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Er hatte die sieben Fotos mittlerweile ausgewählt. Ging dann doch erstaunlich schnell. Credits und Tracklisting waren auch fertig. Jetzt also nur noch kopieren und brennen. Peter und seine Freunde hatten schon vor Jahren aufgehört, sich an Weihnachten gegenseitig zu beschenken. Wurde halt nicht leichter, wenn man sich 30 und mehr Jahre kannte. Aber Peter konnte es natürlich auch nicht lassen, ihnen zumindest 'Die Wahrheit' unter den Baum zu legen. Um keine Gegengeschenke zu provozieren nannte er diese CDs einfach seine „Jahresgaben“. Oder „Jahresendtonträger“. Nix mit Fest der Liebe und so. Höchstens ein kleines Mitbringsel zum 3. Weihnachtstag, den sie in kleinem Kreis gern am 27. Dezember feierten. Mit Angrillen, draußen unterm Carport rumlungern und behandschuht Bier trinken. Und für die Frauen gab's Glühwein im beheizten Huckehäuschen. 


Der Funkwecker zeigte in blutroten Ziffern 05Uhr05 und er wollte, dass die CD so schnell wie möglich rausging. Um rechtzeitig anzukommen. Schließlich hatte Walter am 4. Dezember Geburtstag und da konnte so ein bisschen Wahrheit ja wohl nicht schaden. 29 Tage zu früh fertig geworden, dachte Peter und war mit sich zufrieden. Jetzt konnte das Jahr in Ruhe ausklingen. Peter war froh, dass es jetzt fast vorbei war. Er hatte definitiv schon bessere Jahre gesehen. 'Die letzten vier Wochen sitze ich doch auf einer Arschbacke ab', dachte Peter, als er das Päckchen mit der Aufschrift "Die Wahrheit inside" zum Briefkasten brachte. Derweil tropfte es im Keller längst wieder aus der Wand.

(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Sonntag, 18. November 2012

Geh mir doch weg XVII: Hobby zum Beruf


Zugegeben, das war nicht klug gewesen. Peter stand auf dem Balkon und rauchte. Die Augen geschlossen. Die Schultern hingen wie tote Tiere von der Wirbelsäule. Mit Zeigefinger und Daumen massierte er sich die Nasenwurzel. Auf seinen Körper war Verlass. Immerhin. Die bohrenden Kopfschmerzen über dem dritten Auge hatten sich soeben zwischen seinen Brauen niedergelassen. Pünktlich wie ein Maurer. Schade, dachte Peter, dass man für Psychosomatik nicht bezahlt wird. Dann könnte ich mein Hobby zum Beruf machen. Und prima davon leben. 

Selten hatte er Bettina so furios erlebt. Okay, in dem ersten halben Jahr nach der zweiten Trennung, da war sie auch in Höchstform gewesen. Aber auch damals hatte er ein gerüttelt Maß zu ihrem Zorn beigetragen und war ihr beim Aufregen regelmäßig und durchaus engagiert behilflich. Als er den Namen ihres neuen Freundes auf ihrem Klingelschild ergänzt hatte. Ein klarer Akt der Nächstenliebe. Oder als er mit einem weißen Taschentuch fröhlich zum Abschied winkte, als Bettina mit ihrem neuen Lover zu einem romantischen Liebesurlaub in Süddeutschland aufbrach. 

Aber heute war sie noch einen Tick furioser. Klar, ihre Nerven lagen blank. Was kein Wunder war, wenn der frühe Samstagmorgen mit einem unterhaltsamen Wasserrohrbruch begann. Und man das Gefühl nicht loswird, da habe jemand in der Wand einen Hahn aufgedreht. Die Hauptleitung war schnell gesperrt, der unmotivierte Klempner-Notdienst sah nach dem rechten und meinte, da könne man auf Verdacht jetzt so gar nix machen, außer allüberall die Wand aufzustemmen und das könne ja keiner wollen, vor allem er nicht. Aber vor allem auch wir nicht, weil es keine Garantie dafür gebe, dass dadurch auch das wahre Leck gefunden werde, aber Dreck gebe es dafür jede Menge, das sogar unter Garantie. Und ohne Ortungsdienst, der nach der ursächlichen Stelle suche, brauche man jetzt erstmal nichts zu tun, denn - nach einer Probe-Entriegelung des Haupthahns - lief nichts mehr nach. Also Entwarnung. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)
Peter war beruhigt. Und ging erst mal mit Ische auf seine obligatorische Runde durch den Wald. Aber schon da war er in schlechte Gesellschaft geraten. Fiese Kopfschmerzen krochen seinen frisch ausrasierten Nacken hoch. Er musste den Spaziergang nach einer knappen Stunde abbrechen. Die grelle Herbstsonne, die er sonst so genoss, stach in seine Augen wie eine Hornisse. Trotz der dunklen Sonnenbrille. Die Kopfschmerzen waren mittlerweile über seinen Schädel gewandert, hatten die Fontanelle beiläufig anästhisiert und hingen ihm auf dem Nachhauseweg schließlich schon wie ein Pony in den Augen. Als er zuhause ankam, sah er auf dem Disply seines Smartphones zwei Anrufe in Abwesenheit. Es war Bettina gewesen, die ihn zweimal zu erreichen versucht hatte. 

Klar, er hatte das Klingeln wohl gehört, konnte aber nicht rangehen, weil er im Auto saß und keinen Bock hatte, schon wieder 40 Euro zu blechen und noch einen Punkt in Flensburg zu kassieren. Er war ja quasi ante portas. In fünf Minuten da. Zuhause war von Bettina aber keine Spur. Sie hatte ihm auch nicht auf die Mailbox gequatscht. Auch keine SMS geschickt. Konnte wohl nicht so wichtig gewesen sein.

Peter ließ sich erstmal eine Badewanne mit diesem entspannenden Moorzusatz ein. Der Nacken war taub, die Kopfschmerzen saßen wie ein Helm und hatten seine Augen mittlerweile zu schmalen Schlitzen zusammengeschoben. Peter hatte selten Kopfschmerzen, aber wenn, dann wie aus dem Lehrbuch. Als er gerade in die Wanne steigen wollte, rief Bettina ein drittes Mal an, wie sich herausstellte aus dem Keller. "Von wegen, da läuft nichts nach. Ich habe das mal getestet und volle Pulle Wasser laufen lassen. Das sprudelt jetzt wieder munter aus der Wand. Gib mir mal die Nummer vom Notdienst. Die müssen nochmal kommen. Komm mal runter und guck Dir die Sauerei an." Peter hatte dankend abgelehnt und gesagt, er habe bohrende Kopfschmerzen und wolle eigentlich nur noch ins Bett. "Zwei leckere Thomapyrin und das Problem ist gelöst", hatte Bettina noch heiter gesagt, obwohl ihre mentale Verfassung eher wolkig wirkte.

Foto (c): Thomas Ottensmann)


Das Vollbad hatte gut getan. Peters Nacken hatte sich im dampfend heißen Wasser ein wenig entspannt. Der Helm hatte den Kinngurt gelöst. Er wollte jetzt nur noch ins frisch bezogene Bett. Ein wenig die Augen schließen. Dann würden die Kopfschmerzen nicht den ganzen Tag an seinem Bett sitzen bleiben. Das konnte ja keiner wollen, vor allem Peter nicht. Mit einem Blick auf das schmutzig-braune Moorwasser hatte er dann geistesabwesend den Stöpsel gezogen und sich das Badelaken um die Lenden gewickelt. Als er gerade ins abgedunkelte Schlafzimmer wanken wollte, kam Bettina wie eine Lok auf zwei Beinen die Treppe hoch: "Hömma, hast Du sie eigentlich noch alle?". Sie brüllte. Hysterisch. "Wie kannst Du denn jetzt Wasser verbrauchen? Weißt Du, wie das unten aussieht? Die Kacke kannst Du selbst wegmachen". Ihre Stimme überschlug sich. "Was bescheuerteres als Dich gibt es ja gar nicht". Ihr eigentlich recht hübsches Gesicht war von hektischen roten Flecken hässlich geschminkt. Danke gleichfalls, sagte Peter kleinlaut. Aber da war sie längst abgedampft.

(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Mittwoch, 14. November 2012

Rammstein feat. Krümelmonster


Ich esse den Keeeeeeks!


Geh mir doch weg XVI: Ein halbes Haus


Peter musste laut lachen. Das war unfassbar. Unglaublich. Sen. Satio. Nell. Er hatte sich gerade ein neues Auto gekauft. Er hatte ihn wieder. Seinen geliebten Pumpe-Düse. Nach sechs Jahren Rumgehurke mit diesen beiden sehr alten, sehr kaputten und sehr unzuverlässigen Golf II. 
(Foto(c): Thomas Ottensmann)
Klar, es war 
nicht uncool, mit einem Auto durch die Gegend zu gondeln, dass älter war als viele Fahrerinnen von diesen unzähligen niegelnagelneuen Mini Coopern oder Fiat Cinquecentos. Zudem verschwanden die Golfs der zweiten Baureihe gerade so langsam von der Bildfläche. Was es noch besonderer wirken ließ. 

Aber insgeheim hatte Peter immer seinem Lieblingsauto hinterhergetrauert, das er 2006 - kurz vor dem Sommermärchen - wegen kurzfristiger Liquiditätsprobleme dann doch verkaufen musste, weil er sich die Raten wegen seiner Scheidung in Tateinheit mit Arbeitslosigkeit und kurzfristiger Wohnungslosigkeit einfach nicht mehr leisten konnte. Der Golf IV, 1.9 Liter, TDI. Hach, was für ein Auto. Aber er war 2006 ja schon lange kein Manager mehr. Die Protzkarre muss weg, hatte Bettina mehrfach betont. Und gedrängelt. Und genölt: Du gehst sonst pleite, Wunderlich! 

Er hatte sich ja gerade erst eine Eigentumswohnung gekauft. Die zweite. Die erste war bei seinem finanziellen Touchdown nach der Scheidung hops gegangen. Die Aufhebung der Baufinanzierung hatte ihn fast mit in den Abgrund gerissen. Aber Peter Wunderlich wäre ja nicht Peter Wunderlich, wäre er kein Stehaufmännchen. Hinfallen, ja, liegenbleiben, niemals! Genau genommen hatte er sich 18 Monate nach der Scheidung aber keine Wohnung gekauft, sondern ein halbes Haus. Zusammen mit Bettina. Sie hatte die Wohnung unten gekauft, er die Wohnung oben. Beides schön säuberlich voneinander getrennt. So wohnten sie quasi zusammen, konnten sich aber auch prima aus dem Weg gehen, wenn die Luft mal etwas voluminöser wurde. 

Dass er den Baukredit überhaupt bekommen hatte, war dann aber doch überraschend gewesen. Für alle Beteiligten. Eine Null-Eigenkapital-Finanzierung der örtlichen Sparkasse. Damit hatte er selbst nicht gerechnet. Er hatte sich gerade zum zweiten Mal selbstständig gemacht und sein Kerngeschäft lief noch gar nicht wirklich. Aber sein Konzept, für das er nach der Stütze noch ein halbes Jahr mit EU-Geldern gefördert wurde, las sich spannend. Als hätten alle nur auf Wunderlich gewartet. Als sei die erste Million schon so gut wie im Sack. Jaha, schreiben konnte er! Nur mit dem Umsetzen, da haperte es dann doch des Öfteren. Aber sein Steuerberater und Wirtschaftsprüfer hatte ihm noch eine Art Prognose geschrieben, dass er bestens ausgebildet und erfahren sei, blablabla, dass er was drauf habe, blablabla, und in der Lage sei, die zweite Selbstständigkeit genauso erfolgreich zu gestalten wie die erste sieben Jahre zuvor, blablabla und überhaupt sei er ein netter Typ, an den man einfach mal glauben solle. So in etwa, nur seriös und mit spezifischem Fachchinesisch, mit Geldsprache, angereichert. Das fand die Ansprechpartnerin bei der Bank offenbar überzeugend. Noch viel überzeugender fand sie aber wohl die Aussicht auf ihre Provision für einen 100.000-Euro-Kredit. Zumal es kurz vor Weihnachten 2005 war, als die Papiere endlich unterschrieben wurden. Es mussten ja schließlich ein paar fette Geschenke unter den Baum. 

Peter Wunderlich hatte also wieder ein Zuhause, das ihm ganz allein gehörte. Wo er tun und lassen konnte, was er wollte. Wo er sich nicht mit verpeilten Vermietern und grummeligen Hausmeistern rumärgern musste. Wo er die Wände heute mit schwarzem Hochglanzlack streichen konnte und morgen in Pink, ohne dass einer rummaulte. Wo er im Wohnzimmer Schlagzeug spielen und nachts die Waschmaschine anwerfen konnte oder sich ein Bad einließ, ohne allzu große Nöligkeit der Nachbarn. Nachbarn waren ja jetzt nur noch seine Freundin Bettina und ihre Tochter Marie, die jetzt 16 und damit auch gleichzeitig sein ältestes Patenkind war

Aber nicht zuletzt die Tilgungsraten und die verfluchten Zinsen machten Peter das Leben im ersten Jahr der neuen Selbstständigkeit so schwer, dass er sein Lieblingsauto dann doch verkaufen musste. War natürlich noch nicht abbezahlt, aber mit dem Kaufpreis konnte er die Autofinanzierung ablösen – mit hohem Verlust versteht sich. Egal, nur eine Rate weniger ist eine gute Rate. Und Bettina hatte das zwar gewohnt feinfühlig formuliert („Das Angeberauto muss wech!“), aber nichtsdestoweniger hatte sie ja deshalb nicht ganz Unrecht damit gehabt. Er konnte sich das Auto damals einfach nicht mehr leisten. 

Und jetzt? Freude pur. Peter musste laut lachen. Das war unfassbar. Unglaublich. Sen. Satio. Nell. Er hatte wieder einen TDI. Zwar einen kleineren, sogar den kleinsten aller Volkswagen, aber egal. Der Lupo hatte ihm bei der Probefahrt schon richtig viel Spaß gemacht. Wie damals, bei seinem ersten TDI. Und das neue Auto war im Unterhalt gerade mal halb so teuer wie der 24 Jahre alte Golf II mit seinem ungeregelten Katalysator. Ein 3-Liter-Auto! Das wirklich nur 3 Liter - und manchmal sogar weniger - verbrauchte. Das mit einer Tankfüllung für knapp 50 Euro 1100 Kilometer weit fuhr. Das man notfalls auch mit dem Nobelkraftstoff Brölio aus dem Aldi betreiben konnte. Der Liter zu 1,39 €, was nochmal zehn Cent unter dem derzeitigen Dieselpreis lag. Peter grinste übers ganze Gesicht. Das war unfassbar. Und so vernünftig. Peter war ein kleines bisschen stolz auf sich. Eine klare Kopfentscheidung!

Als er den Wagen voller Ungeduld angemeldet und zugelassen hatte, war er sofort zur ersten längeren Testfahrt aufgebrochen. Das Herbstwetter ließ es noch mal so richtig krachen. Er hatte das Schiebedach geöffnet, seine Sonnenbrille auf der Nase und das Radio volle Pulle aufgedreht. Es lief "Three Little Birds" von Bob Marley. Was für ein herrlicher Tag! Peter hatte dankbar zur Kenntnis genommen, das er zum ersten Mal seit ein paar Jahren sogar wieder einen CD-Player im Auto hatte - und dann noch mit Wechsler. Schönes Extra, quasi das einzige über das der kleine Lupo verfügte. Zentralverriegelung, Servolenkung, abschließbares Handschuhfach? Fehlanzeige. Aber ein gutes Radio mit CD-Wechsler. Großartig. 

Leider hatte er auf der Fahrt zum Straßenverkehrsamt vergessen, eine CD einzustecken. Sonst hätte er jetzt in Brüllstärke Massive Attack hören können. Schade, aber das lief ihm ja nicht weg. Peter drückte gedankenverloren auf den Eject-Knopf des CD-Players, wie um die Musik zu wechseln. Ein Reflex. Eine Übersprungshandlung. Denn zunächst mal musste man ja etwas einwerfen, bevor man etwas raus bekam. Alte Weltspartag-Weisheit. Der lokale Radiosender meinte, nach Bob Marley könne nun auch ein Lambada nicht schaden. Der Ansicht war Peter nun gar nicht. Sommer im Herbst? Limbo im November? 
(Foto(c): Thomas Ottensmann)
Nix da. Alles hat seine Zeit. Peter drückte auf den Eject-Knopf des CD-Players. Und heraus surrte langsam ein Rohling. Per Hand beschriftet. Ein letzter Gruß des Vorbesitzers. Den er offenbar im Schacht vergessen hatte, als er das Auto dem Händler überließ. Peter zog die CD raus, war gespannt, welche Musik darauf war. „Mir geht es gut“, stand auf der CD, „Wege zum positiven Denken“. Peter musste laut lachen. Das war unfassbar. Unglaublich. Sen. Satio. Nell.


(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Sonntag, 11. November 2012

Demokratie ist hinderlich


Die Lösung aller Finanzprobleme liegt nah und doch so fern. Danke, Volker Pispers. Es könnte so einfach sein...

Donnerstag, 8. November 2012

Geh mir doch weg XV: Schlafes Brüder


XV

Seine Schlaflosigkeit hatte längst absurde Züge angenommen. Er war ja selten um einen trockenen Spruch verlegen. Schlecht schlafen kann ich überall gut, sagte Peter manchmal, auf seine seltsamen Schlafgewohnheiten angesprochen. Oder: Ach, 
(Foto (c): Thomas Ottensmann)
schlafen wird ohnehin überbewertet, ich schieb das meistens ans Monatsende. Letzterer war natürlich geklaut. Von Theo Gromberg. Aus dem Kino. Tiefste Achtziger, als Westernhagen noch schlicht Marius hieß und als Musiker sogar noch glaubwürdig wirkte. 

Und heute? Konnte Peter immer noch nicht gut schlafen. Entweder schlief er zu viel oder zu wenig. Peter glaubte, dass das mit seinen mentalen Phasen zusammenfiel. Er hatte fast fünfzig Jahre mit empirischen Studien im eingehenden Selbstversuch verbracht und musste das eigentlich wissen. Ging es ihm nicht gut, schlief er zu viel. Ging es ihm gut, schlief er zu wenig. Beides nicht gesund, wie Schlafforscher seit Jahrzehnten mahnten. Dabei wusste Peter genau, wie viel Schlaf er brauchte. Sehr genau. Viereinhalb Stunden. Höchstens sechs. Drei bis vier Tiefschlafphasen à 90 Minuten. Das entsprach im Übrigen ziemlich genau der wissenschaftlich anerkannten Mindestmenge. 

Er hätte doch Papst werden sollen. Karol Wojtyla hatte so viel zu tun, dass er nur fünf Stunden schlief. Und der war ja auch sehr alt geworden. So alt, dass man sich im Nachhinein fragen musste, ob Gott keinen Bock auf den Nachfolger gehabt hatte. Bis auf ein zwei kurze Lebensabschnitte - in der Pubertät und in der zweiten Pubertät, also im Grundstudium - hatte Peter nie viel länger als sechs Stunden schlafen können. So ist das halt mit den Menschen, ihr Schlafbedürfnis ist angeboren, da kann man noch so viel üben und trainieren, das lässt sich einfach nicht ändern. Genauso wenig wie tag- oder nachtaktives Verhalten. Angeboren, Pech gehabt. Eule bleibt Eule, Lerche bleibt Lerche. 

Peter hatte das Schlafverhalten definitiv von seinem Vater geerbt. Und schlimmer konnte es kaum kommen. Er war ein nachtaktiver Frühaufsteher. Etwas, das viele Menschen "a pain in the ass" nennen würden. Als Letzter ins Bett, als Erster wieder raus. Das ging bei Peter bestens, störte ihn auch nicht - höchstens wenn er wieder mal mit ner Freundin zusammen war, die immer dann schlief, wenn er wach war. Wenn Peter seine 3-4 Tiefschlafphasen erwischte, war alles gut. Waren es nur zwei oder gar weniger, streikte irgendwann sein Körper. Die Folge: Üble Krämpfe in Waden, Füßen und Zehen, die er notdürftig mit hochkonzentriertem Magnesium bekämpfte und ein nervöses Augenlidzucken, gegen das kein Kraut gewachsen schien. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Schlimm wurde es immer dann, wenn Sorgen, Ängste und Nöte Peter den Schlaf raubten. Richtig übel immer dann, wenn er einfach nicht schlief, ohne triftigen Grund, einfach so. Teilweise wurde er erst dann so richtig hundemüde, wenn morgens der Wecker klingelte. Also damals, als er noch zur Arbeit gehen musste. Damals, als er noch richtige Arbeit hatte. Er wälzte sich dann erst die ganze Nacht hin und her, dachte in alle möglichen Richtungen, kam auf die absurdesten Ideen, hielt sie oft für genial und kam so einfach nicht in Schlaf. Solange diese Denkmaschine in seinem Kopf ratterte, war es Essig mit Schlafen. Und morgens dann aufstehen, heiße Dusche, Kaffee in Anstaltsdosen und zerschlagen wie eine Bad Bank zur Schicht. 

Apropos: Sein Vatta hatte sich den Schlafrhythmus spätestens mit Schichtarbeit versaut. Drei Schichten rund um die Uhr hatte er zuletzt malochen müssen. In einer Verzinkerei. In einem Alter, wo das der Körper weder kann noch will. Peter hatte das als Student auch getan, mehr Geld verdient als sein Alter. Er hatte das locker weggesteckt, als er in den Semesterferien in diesem Aluminiumwerk im Sauerland knechtete, um sein ständig zu knappes Bafög aufzubessern. Das war kurz nach dem Abi gewesen. Er war Anfang Zwanzig und konnte auch schon mal alkoholtechnisch über die Stränge schlagen und kam morgens trotzdem pünktlich um 6 Uhr zur Schicht. Mittags dann zum Stausee. Abends wieder ins Pan Tau, dem damals so angesagten Szenetreff. Hier war die ganze Abi-Bagage immer noch vollzählig am Start, in diesen Tagen, in denen der Ernst des Lebens zwar längst begonnen hatte, es aber keiner aus seiner Jahrgangsstufe so richtig wahrhaben wollte. 

Wir feiern einfach noch ein bisschen weiter, hatte er damals zu seinem besten Freund Rainer gesagt, mit dem er gemeinsam bei der Zeitung arbeitete. Und mit dem er auch beim Bund gemeinsam durch die Scheiße gerobbt war. Wir feiern einfach noch ein bisschen weiter, hatte Peter gesagt, um nicht raus ins Leben zu müssen. Um keine wegweisenden Entscheidungen treffen zu müssen. Um nicht erwachsen werden zu müssen. Peter kokettierte damit, das auch heute noch nicht zu sein. 48 und erwachsen? Warum? Und: wozu? 

Er kam ganz gut durchs Leben, wurde zumeist für jünger gehalten und war oft von Jüngeren umgeben. Auf Partys, die ihm gefielen, war er immer der Letzte, immer der, der für den Lichtschalter zuständig war. Kein Wunder, oft genug spielte er früher oder später den DJ. Weil die Musik so schlecht war, weil keiner tanzte oder weil keiner so recht Bock darauf hatte. Peter hatte immer Bock darauf. Egal, ob er mit oder ohne Begleitung gekommen war. Egal, ob die Begleitung jemanden auf der Party kannte oder nicht. Peter landete am Plattenspieler oder CD-Regal, hatte sein Set als Mixtape im Kopf und hangelte sich durch seine All-Time-Favourites. Mühelos, schwerelos, magisch. Vergaß Raum und Zeit und freute sich, wenn er die Leute zum Tanzen und manchmal auch zum Lachen brachte. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Dass die eine oder andere Begleitung im Laufe der Nacht längst die Party und damit zumeist auch Peter verlassen hatte, merkte er oft erst, wenn er im Morgengrauen als einer der Letzten vom harten Kern erschöpft am Rippenkörper der Heizung kauerte und gierig einen kümmerlichen Rest Nudelsalat verschlang. Weil er vor lauter Musik im Kopf und DJ-Gewese mal wieder vergessen hatte, zu essen, als es Zeit gewesen war. Und das Buffet noch reichhaltig und appetitlich schien. Diese paar Wochen Schichtarbeit und diese vielleicht hundert Partys konnten aber nicht der Grund für die anhaltende Schlaflosigkeit sein. Peter vermutete Schlimmeres. Der Grund lag in seinem Kopf. 

Wenn er zu wenig Dinge hatte, um die er sich kümmern musste, verfiel er schnell in Agonie. Phlegma als Fluch. Er schlief dann zehn, zwölf Stunden, von denen er sicher die Hälfte wach lag, ohne auch nur die geringsten Anstalten zu machen aufzustehen. Wozu auch? Die Welt hatte nicht auf ihn gewartet. Alle acht Wochen dann einmal zeitig aufstehen - was ihm dann sehr schwer fiel - beim Arbeitsamt die sauberen Fingernägel vorzeigen und brav nicken und - zuhause dann wieder wacker ins Bett gekrochen. Die Decke über die Ohren gezogen und weiter gehofft, dass auch diese dunkle Phase vorüber ging. Was sie bislang auch immer getan hatte. Zumeist nach einer schlaflosen Nacht, die er mit kreativem Gedaddel (Mixtapes, Bücher, Internet) vertrödelte, war er so voller Energie und neuer Lebensfreude, dass eine Hochphase beginnen konnte. 

Und in den ersten Tagen dieses Hochs wollte er dann immer alles nachholen, was er in den langen Wochen und Monaten versäumt zu haben glaubte. Alles aufarbeiten, was liegen geblieben war. Weil er sich selbst nicht traute, weil er nie wusste, ob diese Phase stabil war und wann die Depression zurückkam. Ob sie nur kurz Brötchen holen oder doch für drei Monate nach Teneriffa geflogen war. Der Pendelverkehr zwischen Hoch und Tief begleitete Peter nun schon sein halbes Leben. Mit 24 hatte er das zum ersten Mal als definitiv nicht normal wahrgenommen, es war die Zeit, als er mit Bettina und Petra zunächst zwei Frauen am Start hatte, nur um kurz danach als Single wieder wach zu werden. 

Er hatte sich mit diesem stetigen Wechsel zwischen  Ups und Downs mittlerweile arrangiert, aber Freunde würden sie wohl nie werden. Wenn er wählen könnte, nähme er natürlich die Ups, wohl wissend, dass er im Dauer-Hochbetrieb pleite gehen, durchdrehen und sterben würde. In dieser Reihenfolge. Es war wie mit dem Schlaf. Ausgewogen hatte er zu sein, wenn er gesund sein sollte. Vielleicht verhielt es sich mit dem Leben ganz genauso?


(Foto (c): Thomas Ottensmann)
Er wusste genau, wie wichtig gesunder Schlaf für ihn war, wie wichtig für jedes Säugetier. Gefährlich wird es ja immer dann, wenn der natürliche Rhythmus durch äußere Umstände oder den eigenen Lebenswandel so gestört ist, dass ernsthafte Erkrankungen drohen. Nicht umsonst wurden Menschen auf der ganzen Welt mit Neonlicht und ohrenbetäubender Musik mit Schlafentzug gefoltert. Es heißt, wer länger als drei bis vier Tage nicht schläft, würde wahnsinnig. Und wer länger als eine Woche ohne nennenswerten Schlaf verbringt, stürbe. 

Peter war jetzt seit 40 Stunden ohne Schlaf. Seine Augenlider hingen auf halb acht. Er hatte dunkelgraue Ringe unter den Augen. Das linke Augenlid zuckte unablässig. Die Mundwinkel zeigten deutlich nach unten. Er fühlte sich so zerschlagen, dass er davon ausging, dass es kein weiter Schritt mehr für ihn sei, bis Wahnsinn und Tod ihn an der Haltestelle Insomnia-Süd abholten. Und bis zur Endstation fuhren. Wahnsinn? Tod? Schlafes Brüder? Für Peter längst keine furchteinflößenden Vasallen mehr.

(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Mittwoch, 7. November 2012

Cool, Mr. President!

Wenn es wirklich stimmt, dass Barack Obama seinen Wahlsieg lediglich ein paar Tausend Stimmen zu verdanken hat, dann dürfte das entscheidende Zünglein an der Waage die Coolness des amtierenden US-Präsidenten gewesen sein. You better you bet:

Geh mir doch weg XIV: In fremden Federn


Als Peter aufwachte, wusste er nicht, wo er war. Er hatte erwartet, in seinem Bett, in seiner Wohnung, in seinem Haus aufzuwachen. Wie er das eigentlich immer noch jeden Morgen erwartete. Seit nunmehr 40 Tagen. 
(Foto (c): Thomas Ottensmann)
Egal, ob er in diesem ehemaligen Imkerhäuschen im Wald geschlafen hatte. Oder unter der Autobahnbrücke auf einer versifften Matratze. Als er die Augen heute morgen dann aber endlich öffnete, hatte er heftige Orientierungsschwierigkeiten. Wo war er? Orientierungsschwierigkeiten waren für Peter nix Neues. Die hatte er schon als Kind gehabt. Er konnte sich nicht besonders gut zurechtfinden in der großen Welt. Und hatte einfach keinen guten Orientierungssinn. Er verlief sich oft und gerne. Westen? Osten? Tja, hängt das nicht davon ab, wo man gerade steht? Und ist das nicht ohnehin dasselbe? 

Sein innerer Kompass war irgendwie defekt. Immer schon gewesen. Manchmal guckte er nach links, wenn ihm jemand etwas rechts zeigen wollte. Wenn er dann ungeduldig fragte, wo ist denn jetzt rechts, hatte Peters Vatta immer gesagt: Rechts ist da, wo der Daumen links ist. Fertig. Nix mehr. Kein Fingerzeig, keine Erklärung, nur diese heimliche Feixen, wenn der kleine Peter stirnrunzelnd in der viel zu großen Umgebung stand und immer noch nicht wusste, wo's langging. Leider hatte sich das mit den Orientierungsschwierigkeiten auch im Alter nicht gegeben. Was Wunder, dass Peter einer der Ersten war, der sich ein Navigationssystem zulegte. In den frühen Nuller-Jahren, als die Dinger noch so groß wie ein Kleinwagen und ebenso unkomfortabel wie unzuverlässig waren. Nur mit Karte und Autoatlas bewaffnet, kam Peter selten dort an, wohin er eigentlich wollte. Und noch seltener pünktlich. Konnte auch schon mal daran liegen, dass er geraume Zeit in die entgegengesetzte Richtung fuhr, weil er die Karte falsch rum hielt.


(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Es war ein Kreuz. Er war wohl geographischer Legastheniker. Konnte sich mühsam Kirchen, Fußballstadien und Werbeplakate einprägen und sich dann in einer fremden Stadt notdürftig daran orientieren. Hier war ich schon mal, murmelte er dann, wenn klar wurde, dass er mal wieder im Kreis gefahren und dass das Ziel noch lange nicht erreicht war. Heute kam Peter bestens klar. Aber erst seit es die wirklich funktionierenden GPS-Handys mit integriertem Navi gab. Als Onliner ließ er sich alle zwei Jahre von seinem Mobilfunkbetreiber upgraden. Maulte dann vier Wochen rum, das "sei nix für alte Leute" und das "verstehe, wer will, er aber wolle definitv nicht" und dann - schwupps - war er auf einmal ganz kurz still und dann der größte Fan der modernen Technik. 


(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Aber heute morgen wusste Peter ums Verrecken nicht, wo er war, als er die Augen aufschlug. Die Bettwäsche roch frisch. Ein sehr flauschiges, angenehm schweres Oberbett, offenbar aus richtigen Daunen, mit Blümchenmuster. Die durchsichtigen Vorhänge waren lindgrün, mit Vertigomuster. Vor dem alten Holzstuhl in der Ecke standen seine schief gelaufenen Wanderstiefel, darauf lagen seine Klamotten. Offenbar hastig ausgezogen. Und ein Top, ein Push-Up-BH und ein Spitzenhöschen. In weiß. Klassisch. Schön. Sexy. In der Ecke sein Rucksack. Vor dem Rucksack die alte Bundeswehrdecke ("Bundeseigentum"), auf der Ische sich wie ein Füchschen eingerollt hatte und schlief. Zu lesen war auf der Decke nur noch "entum". Es roch leicht nach schwarzem Pfeffer. Auf der alten Waschkommode mit Spiegelaufsatz, die dem Bett gegenüber an der Stirnwand stand, glimmte schwach ein Teelicht unter einer Duftlampe. Wo war er? Und was war um Himmels willen passiert? Er wusste noch, dass er Bettina wieder getroffen hatte. Sie lebte immer noch hier. Empfand ihre Unistadt, in der auch ihre Tochter geboren war, längst als Heimat, obwohl sie eigentlich aus dem Pott kam. In den sie aber nie - schon damals in den Achtzigern nicht - zurückwollte. Sie hatten sich getroffen und stundenlang gequatscht. Wie früher. Als hätten sie sich gestern zuletzt gesehen. Dabei war es acht Jahre her, dass sie zuletzt etwas voneinander gehört hatten. 

Ja, sowas gibt's, hatte Peter gestern Abend noch gedacht. Dass man keinen Kontakt hält, sich aus den Augen verliert, nichts mehr voneinander weiß, aber dass trotzdem nichts verloren geht. Weil man sich gar nicht verlieren kann. Weil die Seelen immer noch gleich takten. Da spielen Zeit und Raum dann eine nur noch untergeordnete Rolle. Aber jetzt? Wo war er jetzt? Und wie war er hierher gekommen? Sie hatten die US-Wahlen in einer American-Sports-Bar am See verfolgt, die es damals - als Peter und Bettina noch gemeinsam studierten -  noch gar nicht gegeben hatte. So viel wusste er noch. Und sie hatten dort Tom kennengelernt, der als GI nach Deutschland gekommen und später - der Liebe wegen - einfach geblieben war und diese Bar eröffnet hatte: Toms Diner. Er hatte ihnen immer wieder einen ausgetan, als im Laufe der Nacht klar wurde, dass Barrack Obama wirklich wiedergewählt werden und es die von ihm so erhofften und lautstark skandierten 'Four More Years' geben würde. "Und dann kann er sein Versprechen endlich einlösen und Guantanamo schließen. Ist schließlich schon vier Jahre her, dass er uns das versprach", hatte Tom gesagt, als er mit der nächsten Runde Wodka kam. Muss so gegen halb sechs gewesen sein. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)


Und jetzt lag er hier, hatte geschlafen wie ein Baby und fühlte sich pudelwohl. Als er sich gerade zum dritten Mal fragen wollte, wo er eigentlich war, sprang Ische mit freudigem Jippsen auf und begrüßte - ihn, wie er dachte. Aber die schwarze Hündin  lief grußlos vorbei und blieb schwanzwedelnd vor der Schlafzimmertür sitzen. Als sie sich öffnete, war der Hund dann gar nicht mehr zu halten. Ische warf sich auf den Rücken und wälzte sich von links nach rechts, versuchte nach ihren Hinterläufen zu schnappen und jaulte vergnügt. Ihr Zeichen für "Kraul mich doch am Bauch". Dass Peter eigentlich exklusiv zu haben meinte. 

Sie war gerade aus der Dusche gekommen und trug bis auf ein um die Hüfte gewickeltes Handtuch nur ihr Parfüm, Shalimar, wie früher. Ihr Haar war triefnass und Peter konnte das Vanille-Duschgel bis ins Bett riechen. Bettina kniete sich vor den Hund - was Peter interessante Perspektiven bot - und kraulte Ische den Bauch: "Na, du Süße, hast du auch so gut geschlafen?". Komisch, dachte Peter, ich wollte gerade genau dasselbe fragen.

(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Was bisher geschah.
Die komplette erste Staffel.
Am Stück, nicht geschnitten.


...und alle Folgen im einzelnen: