Dienstag, 27. Oktober 2009

Keine Wand

Habe gestern Andrè kennengelernt. Andrè kommt jeden Morgen mit seiner Hündin Cora auf dem Weg zur Arbeit am schönsten Kalender-Laden der Stadt vorbei. In den Schaufenstern hängen Panorama-Kalender mit ebenso großartigen wie -formatigen Landschaftsaufnahmen. Toskana und Alpen und Meere und Gärten. Da kann man schon mal ins Träumen geraten. Fernweh garantiert. Auch bei Andrè.


Wenn er dann bei der Arbeit angekommen ist, hat ihn der Alltag wieder. Alles grau in grau, manchmal Regen, kaum Wärme oder gar Sonne. Andrè arbeitet draußen. Unschön im Winter. Er macht das schon lange, seit nunmehr fast zehn Jahren. An seinem Stammplatz, in der nach der Maximilianstraße in München teuersten Einkaufsstraße Deutschlands, in der Ludgeristraße in Münster, steht er seit drei Jahren. Mit einem Einkaufswagen, einigen Decken, einem Schlafsack und seiner Hündin. Das ist alles, was er hat.


(Foto: Henning Hraban Ramm, Quelle: pixelio.de)

Er erzählt mir, dass er jeden Morgen vor dem Schaufenster stehen bleibt und denkt, dass das doch ein toller Job sei, diese Fotos zu machen und zu reisen. Dass er aber leider gerade nicht reisen kann, weil er dafür einfach nicht die Kohle hat. Und dass 98 Euro für einen Wandkalender ja ein stolzer Preis sei, aber das wäre wohl gerechtfertigt, denn schließlich sei das ja etwas sehr Schönes. Er sagt nicht, dass er sich so etwas nicht leisten kann und in absehbarer Zeit auch nicht leisten können wird. Er sagt: "Ich würde mir den gerne kaufen, aber ich habe ja keine Wand."


Und dass er so gerne von der Straße wegkäme und dass seine kleine Schwester das gerade ja geschafft habe und endlich eine Wohnung gefunden habe und dass er darüber sehr froh sei. Er habe schon Magenprobleme bekommen, aus Sorge. Als ich ihn frage, ob er das nicht auch wolle, eine Wohnung, um nicht mehr draußen leben zu müssen, sagt er ja klar, aber das könne er gerade nicht. Weil er ja keinen Pass habe. Weil der 26,50 Euro kostet. Und die bekäme er durchs Schnorren nicht so schnell zusammen. Essen für sich und seinen Hund gehe nun mal vor und so dicke habe er es nicht. Aber er würde trotzdem nicht klauen gehen. Er habe mal drei Jahre im Knast gesessen, sei nicht stolz drauf und das habe ihm gereicht. Also gehe er jetzt lieber schnorren.


Und er habe ja auch einen ganz guten Schlafplatz auf einer der zahlreichen Baustellen in der Innenstadt. Dort sei es warm und geschützt, nur morgens ziemlich laut. Andrè hat es wieder am Magen, seit einigen Tagen. In das kirchliche Krankenhaus, das direkt gegenüber vom Schaufenster mit den schönen Kalendern steht, will er deswegen aber nicht mehr gehen. Da war er vor kurzem, mit Magenkrämpfen, so richtig schlimm, mit Erbrechen und Koliken. Dort habe man ihm aber gesagt, dass "Menschen 3. Klasse" dort nicht erwünscht seien. Er wolle sich ja ohnehin nur ein kostenloses Bett für die Nacht erschnorren, er simuliere doch offensichtlich. Da sei er mit seinen Magenschmerzen dann lieber wieder auf die Baustelle gegangen.

Andrè möchte gerne seinen Realschulabschluss nachholen, würde gerne Journalist werden. Er kann gut reden, weiß zu argumentieren, ist informiert, kann seine Meinung vertreten. Aber sein Streetworker habe gesagt, er dürfe nicht träumen, er müsse zunächst mal bis heute 26,50 Euro zusammenkriegen, für den Pass. Für diesen ersten Schritt weg von der Straße.

Andrè lebt seit zehn Jahren auf der Straße. Er ist 24.

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