Freitag, 22. März 2013

Geh mir doch weg XXV: Peter hört ein Huh

Peter Wunderlich wachte auf, weil etwas gestört hatte. Hörte sich wie "Huh!" an. Er wusste nicht sofort, wo er war. Das ging ihm oft so. In der Regel wachte er in seinem Bett auf. In seinen eigenen vier Wänden. Mit der immer gleichen Aussicht auf Nichts. Morgen für Morgen. Trotzdem zweifelte er manchmal an seiner Umgebung. Und seiner Wahrnehmung. 


(Foto (c): Thomas Ottensmann)

"Huuuh!". Etwas eindringlicher jetzt. Immerhin noch nicht fordernd. Er versuchte die verklebten Augen etwas zu öffnen, was ihm schließlich mühsam gelang. Auf Kniehöhe saß Ische. Und sah ihn unverwandt an, was sie ja auch war. Und sagte: "Huuh!". "Bin ich Horton?", dachte Peter kurz. Und wollte sich nach einem verstohlenen Seitenblick auf den Wecker (6Uhr23) nochmal rumdrehen. Aber Ische machte mit der Pfote unmissverständlich klar, dass sie wach war. Und ausgeschlafen hatte. Und dass jetzt gefälligst Programm zu kommen hatte. Am besten Party. Kaninchen jagen, Fangen spielen mit den großen Jungs und Vollsprint in den Waldsee. Yeah! Stöckchen zerbeißen statt holen. Halbe Brötchen finden. Und vielleicht mal ein Eukalyptusbonbon. Huh halt. 


(Foto via Instagram (c):
Thomas Ottensmann)

"Huh", seufzte Peter und richtete sich mühsam auf. Das wurde im Alter jetzt auch nicht direkt leichter, schon gar nicht morgens. Er musste mal wieder was tun. Wusste er ja selbst. Und er hatte letztens noch einen Anruf von seinem Hausarzt bekommen. Natürlich nicht von dem Arzt selbst, er war ja nicht privat versichert. Aber die Sprechstundenhilfe rief an. Ob er nicht mal wieder zur Kontrolle der Blutwerte kommen wolle. Man wolle doch nicht, dass er früh sterbe. Er hatte etwas wie "Das haben Sie aber exklusiv, Frau Dollmann" und "Ja, mache ich beizeiten" geantwortet. Und gedacht, dass das kein gutes Zeichen sei, wenn Ärzte von sich aus bei Patienten anrufen. 

Das war so ähnlich wie mit der anderen Polizei. Sobald man einen Streifenwagen im Rückspiegel hatte, stellte sich das schlechte Gewissen ein. Automatisch hoffte Peter dann immer, nicht angehalten zu werden. Er fuhr weder zu schnell, noch war ein Rücklicht kaputt, noch drängelte er auf Autobahnen. Trotzdem: Trachtenverein im Rückspiegel = schlechtes Gewissen. Und mit der Gesundheitspolizei war es nicht besser. Nach dem Anruf aus der Praxis hatte er sofort an die aufgeschobenen Termine und verpatzten Laboruntersuchungen gedacht. An Vorsorgeuntersuchungen, die er noch nie hatte machen lassen, obwohl er sich das früher vorgenommen hatte. Früher, als der 40. Geburtstag noch in weiter Zukunft lag. Und er noch nicht ein paar Freunde an fiese Krankheiten verloren hatte. Jetzt, wo der 50. Geburtstag schon in Rufweite war, war er immer noch nicht dagewesen. Warum eigentlich nicht? Angst vorm Tod? Pah. Er doch nicht. Vorm Sterben vielleicht. Soll ja nicht so einfach sein. Könnte schmerzhaft werden. Warum ging er dann nicht zu diesen Untersuchungen, die durchaus dazu führen könnten, fiese Krankheiten so früh zu erkennen, dass eine Heilung noch denkbar schien? Er wusste es nicht. Trägheit. Phlegma. Gedankenverlorenheit. Womöglich.

Aber wozu eigentlich Altwerden? "Alter ist nix für Feiglinge!" hatte seine Omma immer gesagt. Und seine Mutter hatte ergänzt: "Alt werden wollen sie alle. Aber Alt sein will niemand." Er gab ihr nur ungern recht. Aber er wusste so langsam, was sie meinte. Überhaupt: Alter, wozu sollte das gut sein? Betreutes Wohnen, Essen auf Rädern, später dann ab ins Heim, wo man an langen Tischen saß und auf Mahlzeiten, Brettspiele und vorabendliche Quizshows wartete? Oder die wenigen Feiern, wo man zwei-, dreimal im Jahr mit lustigen, kleinen Hütchen auf dem Kopf schlimmer Musik lauschen musste und zum Mitklatschen genötigt wurde? Soweit würde es nicht kommen. Zumal er sich so ein Heim gar nicht leisten konnte. 

Aber was dann? Auf einem Hausboot leben bis die große Flut kommt? In einem Wohnmobil durch die Gegend fahren bis der Tank leer ist? So was in der Art. Aber jetzt galt es sich erstmal in die Altersarmut zu retten. 23 Jahre noch. Wär doch gelacht. Hatte er schon mehr als zweimal geschafft in diesem Leben. Warum also nicht ein drittes Mal? Eben. "Huuuuh". Der Hund hatte eine Pfote aufgelegt. "Ach, Frollein Huh, ich komme ja schon. Alter Mann ist kein D-Zug", sagte Peter Wunderlich und hievte sich aus der Fierche. "D-Züge? Noch so etwas, was es gar nicht mehr gibt", dachte Peter laut, "aber vermisst die jemand?". "Huh!", sagte Ische.


(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2013)


Donnerstag, 7. Februar 2013

Geh mir doch weg XXIV: In der Karnevalsvorhölle

Er hatte an nichts Schlimmes gedacht. Genau genommen hatte er an gar nichts gedacht. Leere im Kopf. Angenehmes Gefühl. Peter Wunderlich gähnte. An der Leine aus echtem Elchleder ruckte und zuckte es. Ische ackerte die Zeitung durch. Aufgeregt. Hibbelig. Wie jeden Morgen. Wer hatte wo eine Duftmarke hinterlassen? Wer hatte was weggeworfen - und war das vielleicht noch genießbar? Sind die Karnickel zuhause oder schon auf Trebe? Wenn man mit Hunden Gassi geht, dann ist das für sie wie Zeitung lesen. Hatte er mal irgendwo gehört. Das Neueste aus dem Viertel in fünfzehn Minuten. Mit feuchter Nase und offenen Ohren in kürzester Zeit auf dem neuesten Stand. Morgentoilette mit allem Pipapo.


Peter war noch verpennt. Auch mental. Gähnte herzhaft. War arglos. Er hatte leidlich gut geschlafen. Hatte einfach zu viel geackert in letzter Zeit. Und trat in das Krankenhauscafé, wo er noch schnell seine geistige Verpflegung holen wollte. Tageszeitung, Wochenzeitung, Fachmagazin. Na gut, Fußball-Zeitschrift. Er öffnete die Tür und es traf ihn völlig unerwartet:

"Denn wenn et Trömmelche jeiht, dann stonn mer all parat, un mer trekken durch de Stadt, un jeder hätt jesaht..."

Auf einmal sah er die Luftschlangen. Das Konfetti auf dem Boden. Die violette Perücke der eigentlich recht hübschen Kellnerin. Den alten Mann im Morgenmantel, der auf seinem Handrücken zwischen zwei Pflasterstreifen eine Infusionskanüle spazieren führte und der in der Nase Schläuche hatte, der aber gleichwohl auch - wie selbstverständlich - eine rote Plastiknase trug. Herrje. Weiberfastnacht. Hatte er erfolgreich verdrängt. Konnte man in Westfalen ja gut. Wer nicht mitmachen wollte, brauchte auch nicht mitzumachen. 

Das war vor Jahren ganz anders gewesen, als er noch in Köln gelebt hatte. Wer da nicht mitmachte, tat gut daran, die Stadt zu verlassen. In Köln war es definitiv nicht möglich, dem Karneval zu entkommen und gleichzeitig da zu bleiben. Jeder, aber wirklich jeder, war kostümiert. Und aufdringlich gut gelaunt. Und ausgelassen. Und fröhlich. Eine Stimmungslage, die bei vielen Rheinländern ohnehin genetisch bedingt scheint. Kein Gerücht. Trotzdem hatte es Peter als Westfale in Köln insgesamt erstaunlich gut gefallen. Sogar an Karneval. Dabei hatte er es eigentlich gar nicht so mit den Pappnasen, den Herrensitzungen und der Zwangs-Schunkelei zu schlimmer Schlagermusik. Aber, das musste er zugeben, der Karneval in Köln war echt. War irgendwie, nunja, authentisch. Die Menschen waren wirklich fröhlich, freuten sich unbändig auf die angeblich so tollen Tage und konnten diese ganzen Sorgen, Ängste und Nöte mal vergessen - und feierten, bis die Schwarte krachte. Vom Kleinkind bis zum Greis, alles in närrischem Aufruhr.
"Dann weed d´r Aap jemaaht,
egal, wat et och koss.
De Oma jeht nom Pfandhuus,
versetzt et letzte Stöck,
denn d´r Fastelovendes für sie et jrößte Jlöck."
  

Aber heute? Hier? In der tiefsten Provinz Westfalens? Also bitte. Nicht doch. Peter beeilte sich, seine Presseerzeugnisse zu bezahlen. Ische jippste aufgeregt, hatte die leckeren Frikadellen in der Auslage an der Kasse längst in der Nase. "Gibt nix," murmelte Peter, und steckte das Klimpergeld in die Hosentasche, "du hast zu Hause alles, was du brauchst". Er meinte die Hündin. Er meinte das Trockenfutter. Doch seine Gedanken machten mal wieder, was sie wollten: "Stimmt das eigentlich? Habe ich zu Hause auch alles, was ich brauche?". Peter wollte darüber nicht nachdenken, nicht hier, nicht zu diesem Soundtrack. Er sehnte sich nach der wattigen Leere im Kopf, die ihn eben noch entgegen der Unbill des Lebens in ihre warmen Arme geschlossen hatte.  
"Denn wenn et Trömmelche jeiht, dann stonn mer all parat, un mer trekken durch de Stadt, un jeder hätt jesaht: Kölle Alaaf Alaaf, Kölle Alaaf!"

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Der Alte rülpste hörbar. Hielt, viel zu spät, die faltige Hand vor den Mund. Seine Begleitung, ein hübsches, sichtbar großflächig tätowiertes Ding Ende Zwanzig, rümpfte die Nase und flüsterte "Mensch, Oppa, das geht auch leiser!". Leiser geht immer, dachte Peter, als er die Tür des Cafés öffnete und ins Leben zurückkehrte. Über ein Kostüm hatte er sich derweil immer noch keine Gedanken gemacht, obwohl er am Samstag zu einer Karnevalsparty eingeladen war, zu der er auch hinzugehen gedachte. "Ist ja auch egal", dachte Peter, "gehe ich eben als Mann mit Hund. Das muss reichen."





(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2013)